Nach vielen Jahren Erfahrung als Kriminalbeamter kehrte Gert van Beek dem öffentlichen Dienst den Rücken und wurde Business Owner bei GvB Integrity Services. Er stellt uns einen interessanten Business Case vor, bei dem Mitarbeiter des Frontoffice in der Erkennung von Hinweisen auf betrügerisches Verhalten von Anspruchstellern geschult wurden. Dieser Blog basiert auf seinem FRAUDtalk.
Jeder Betrugsversuch beginnt im Frontoffice. Wäre es nicht sehr nützlich, solche Fälle stets schon hier zu erkennen? Und wäre es nicht schön, wenn jede Schadensforderung zu Recht erhoben würde? Das ist natürlich utopisch, aber hier gibt es auf jeden Fall Optimierungspotential. Der Einsatz technischer Lösungen wie „protective intelligence“ hilft, Betrugsversuche schon frühzeitig zu erkennen. Doch wir sollten den „Faktor Mensch“ nicht unterschätzen! Nehmen wir als Beispiel nur mal die niederländische Kampagne gegen Phishing („Hörer auflegen, nichts anklicken, Bank anrufen“), die das Bewusstsein der Verbraucher so erfolgreich geschärft hat, dass die finanziellen Schäden deutlich zurückgegangen sind.
Plötzliche Zunahme von Schadensforderungen
Sicher kennen Sie die folgende Situation: Kurz nach der Einführung neuer und beliebter Geräte, wie zum Beispiel vor Kurzem dem iPhone 7, erleben Versicherungsgesellschaften, die Versicherungen für derartige „persönliche Geräte“ anbieten, plötzlich eine starke Zunahme von Schadensforderungen, bei denen ältere Geräte „ins Wasser gefallen“, „unter das Auto geraten“ oder „heruntergefallen“ sind. Viele dieser Schadensforderungen sind vermutlich verdächtig. Es wäre ein großer Vorteil, wenn solche Fälle schon im Frontoffice erkannt werden könnten.
Gründe für ein Experiment
Einer unserer Kunden erzählte uns vom obigen Beispiel und wollte wissen, was dagegen unternommen werden könne. Zunächst haben wir uns gemeinsam einige Fragen gestellt: Warum möchten wir etwas dagegen tun? Warum geschieht es? Warum erkennen unsere Mitarbeiter verdächtige Schadensforderungen nicht? Was können wir tun, um dafür zu sorgen, dass diese speziellen Fälle erkannt werden? Welche Ausstattung benötigen die Mitarbeiter dafür? Wie gehen wir mit den betreffenden Kunden um? Und vor allem: Was wollen wir erreichen?
Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Frontoffice-Mitarbeiter nicht genug über Betrug wussten und vor allem kein ausreichend klares Bild ihrer eigenen Rolle bei der Prävention haben. Die Mitarbeiter wussten nicht genug darüber, welche Fragen sie stellen sollten, und anhand welcher sprachlichen Hinweise sich Lügen erkennen lassen. Das Unternehmen wollte also insbesondere das Bewusstsein der eigenen Mitarbeiter für Betrugsfälle schärfen und mindestens eine weitere interessante Lernerfahrung machen, bei dem gemäß Abraham Maslows Lernmodell nacheinander die Schritte „unbewusste Inkompetenz“, „bewusste Inkompetenz“ und schließlich „bewusste Kompetenz“ durchlaufen werden.
Ziel des Unternehmens war es, Verdachtsfälle frühzeitig zu erkennen und einem gesonderten Verfahren zu unterziehen. Letztlich führte dies zu einem interessanten Business Case oder zumindest zu einem interessanten Experiment.
Geschärftes Bewusstsein, mehr Wissen
Schritt 1 bestand aus einem Seminar, dessen Ziel es war, Wissen über die Themen Betrugserkennung, Gründe und Anzeichen für Betrug sowie Täterpsychologie zu vermitteln. So sollte der Ball ins Rollen gebracht werden.
Schritt 2 war eine Schulung über Fragetechniken: Keine geschlossenen, sondern die klassischen „W“-Fragen stellen: wo, wann, warum, womit und wie? Das ist nicht immer leicht, aber so können viel mehr Informationen aufgedeckt werden.
Bei Schritt 3 ging es um die Erkennung von sprachlichen Anzeichen für Lügen: Was wird gesagt, und wie wird es gesagt?
Über Techniken zum Erkennen von Lügen wird in den Niederlanden sehr kontrovers diskutiert. Bestehenden Techniken wird wenig Vertrauen gegenübergebracht, und Erfolge werden häufig dem Zufall zugeschrieben. Ich habe solche Techniken jedoch lange und häufig mit großem Erfolg angewendet – jedoch nur im privaten Sektor, da ihr Einsatz im behördlichen Umfeld nicht erlaubt ist.
Breite Einigkeit herrscht hingegen bei der Einschätzung, dass zwei Drittel unserer Kommunikation nonverbal ablaufen. In Nachbarländern der Niederlande werden Forschung und Lehre in diesem Bereich sehr ernst genommen. So werden zum Beispiel in den USA 23 nonverbale Faktoren ausgewertet, die auf Täuschung hindeuten. Bei der berühmten Aussage Bill Clintons während seiner Befragung zur Lewinsky-Affäre waren 21 dieser 23 Faktoren erfüllt. Natürlich ist mir völlig bewusst, dass diese Täuschungsfaktoren keine harten Beweise sind. Sie sind jedoch eine gute Möglichkeit, andere Informationen zu untermauern.
Wie man erkennt, ob jemand lügt
Lügen ist harte Arbeit. Wer lügt, muss sich anstrengen: Die Geschichte des Lügners ist erfunden, was es ihm erschwert, konsistent zu bleiben. Dies erfordert eine hohe Konzentration, was zu Stress führt. Dieser Stress wiederum bewirkt, dass der Lügner Anzeichen an den Tag legt, die er nicht unterdrücken kann. Der Stress beeinflusst die Offenheit und Leichtigkeit, mit der der Lügner spricht: Er beginnt zu stocken, räuspert sich häufig, neigt zu Versprechern und verwendet viele Füllwörter oder Pausen. Um Zeit zu sparen, wiederholt der Lügner die Frage oder bittet den Fragesteller darum.
Häufig antworten Lügner auch extrem formal und erzählen in chronologischer Reihenfolge. Wenn Sie mit Ihren Fragen in der Geschichte des Befragten vor- und zurückspringen, verstrickt sich dieser leicht.
Ehrliche Schadensforderungen unterscheiden sich ferner von betrügerischen dadurch, dass der Anspruchsteller nur bei letzteren wirklich emotional beteiligt ist. So betonen zum Beispiel ehrliche Anspruchsteller nach dem Verlust eines Telefons häufiger den Verlust der Fotos und anderer persönlicher Informationen. Lügner hingegen neigen dazu, ihre Schilderung mit Ausdrücken wie „es war wirklich so“, „glauben Sie mir“, „ich schwöre es“ usw. zu spicken.
Auch Auslassungen sind ein Indikator
Ein häufig zu beobachtender Effekt ist, dass Lügner im entscheidenden Moment das Personalpronomen wechseln: Sie beginnen in der ersten Person singular, doch wenn es zu konkret wird, wechseln sie die Perspektive. Es ist viel schwieriger, zu sagen: „Ich habe das nicht getan!“, als einen Sachverhalt ganz allgemein zu verneinen.
In der Schilderung der Ereignisse können zum Beispiel auch wesentliche Teile weggelassen werden: „Ich ging mit dem Telefon in der Hand aus dem Haus. Dann ist es unter ein Auto gefallen, das gerade losfuhr.“ Was fehlt, sind Angaben dazu, warum und wie das Telefon heruntergefallen ist.
Ein weiteres Anzeichen für eine Lüge ist die Verwendung von Aussagen wie „soweit ich mir erinnere“, „eigentlich“, „jetzt, wo Sie es sagen“, „rückblickend muss es so gewesen sein, dass“ oder „ich glaube, es ist so passiert“ usw. So werden Möglichkeiten für spätere Widersprüche geschaffen.
Stress hebt auch die Stimmlage: je dreister die Lüge, desto höher die Stimme.
Erst zuhören, dann aufschreiben
Nach so viel neuem Wissen begann das Training. Wir haben dies durch Coaching und Hinweise direkt am Arbeitsplatz gemacht. Auch gab es Workshops, bei denen eine Auswahl von aufgezeichneten Telefongesprächen verwendet wurde. Die Maßnahme war ein voller Erfolg: Die Mitarbeiter beteiligten sich mit Begeisterung und diskutierten den Ablauf der Telefongespräche und die Art der Fragestellung.
In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Mitarbeiter im Callcenter häufig wörtlich oder im übertragenen Sinn das eingetragen haben, was sie vom Kunden als Antwort erwartet haben. Außerdem haben die Mitarbeiter sich regelmäßig damit zufriedengegeben, dass sie auf eine der Fragen überhaupt keine Antwort bekamen. Insgesamt waren sie mehr mit dem Prozess der Bearbeitung des Schadensfalls als mit dem Inhalt des Falls selbst beschäftigt. Wir haben sie darauf aufmerksam gemacht und sie ermuntert, weitere Fragen zu stellen und zu notieren, was geantwortet wurde (oder eben nicht).
Strikte Formulare
Der letzte Schritt bestand in der Entwicklung eines strikten Formulars für Schadensforderungen, in das wir Aussagen wie „Wir möchten betonen, dass …“, „Laut Strafgesetzbuch …“ oder „Wir werden unverzüglich rechtliche Schritte ergreifen, wenn …“ aufgenommen haben, teilweise in Fettdruck und in einem Kasten.
Dieses Formular haben wir einer Auswahl verdächtiger Antragsteller zugeschickt. Die Auswahl war natürlich vollkommen subjektiv und basierte auf den Täuschungsanzeichen.
Es ist eine bemerkenswerte Eigenschaft von uns Niederländern, dass wir, wenn wir eine berechtigte Forderung haben und sicher sind, Anspruch auf eine Zahlung zu haben, angesichts eines solch übertrieben verfassten Formulars bestenfalls ein bisschen maulen, aber das Formular auf jeden Fall ausfüllen und zurücksenden. Im Normalfall kommen 100 % der Formulare ausgefüllt zurück. In unserem Experiment waren es nur knapp über 70 %.
Warum? Das werden wir natürlich niemals herausbekommen, aber das Experiment hat uns viel über die Möglichkeiten zur Betrugserkennung im Frontoffice gelehrt.