Joanne Reinhard ist als Senior Advisor im „Behavioural Insights“-Team tätig. Sie hat sich auf die Frage spezialisiert, wie sich verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse nutzen lassen, um Verhaltensänderungen zu bewirken. In diesem Blog erklärt sie wie Versicherer Ehrlichkeit unter den Kunden können fördern.
Der Wunsch, sich selbst in einem guten Licht zu präsentieren, ist jedem Menschen eigen. Dies ist es, was das Leben lebenswert macht. Deshalb stehen uns verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, unser eigenes Verhalten vor uns selbst zu rechtfertigen. Mein Fachgebiet untersucht diese Verhaltensmuster und wie sie genutzt werden können, um menschliches Verhalten positiv zu beeinflussen. Dabei geht es im Wesentlichen um kleine Änderungen, die bestimmte Verhaltensmuster nutzen.
Ehrlichkeit in der Versicherungsbranche
Einige dieser Verhaltensmuster möchte ich gerne erläutern und dabei aufzeigen, wie sie sich nutzen lassen, um Versicherungsbetrug und mehr oder weniger unabsichtliche Fehler zu verhindern.
Zunächst ist es wichtig, sich klarzumachen, dass die meisten Menschen sich eigentlich ehrlich verhalten wollen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse unserer Arbeit ist, dass ein großer Teil des „unabsichtlichen“ Betrugs („Versehen“) sich durch eine Vereinfachung der Prozesse verhindern lassen. Eine einfache Sprache mit klaren Handlungsanweisungen – das reicht häufig schon aus, um erwünschtes Verhalten zu fördern.
1. Normierung
Wir passen unser Verhalten gerne daran an, was wir als allgemeingültige Norm wahrnehmen. „Ab und zu nimmt jeder mal seine Reiseversicherung für eine teure Sonnenbrille in Anspruch. Ich wäre dumm, das nicht auch zu tun.“
Anwendung: Klar und deutlich benennen, wie die tatsächliche Norm aussieht. So können Sie die Kunden zum Beispiel darüber informieren, dass nur einer von zehn Versicherten seine Reiseversicherung in Anspruch nimmt. So scheint es plötzlich nicht mehr so normal, einen Schaden einzureichen. (Dabei ist natürlich zu beachten, dass die dargestellten Fakten der Wirklichkeit entsprechen müssen.)
2. Mangel an sozialem Vertrauen
Es fällt uns leichter, eine Regelung oder ein Versicherungsverhältnis zu missbrauchen, wenn wir davon ausgehen, dass auch die Gegenpartei unehrlich ist. „Ich brauche nicht ehrlich zu sein, weil die Versicherungsgesellschaft sowieso jede Vorschrift zu ihren Gunsten auslegt. Da braucht man sich ja nur mal das ganze Kleingedruckte anzusehen.“
Anwendung: Sorgen Sie dafür, dass Ihre eigenen Prozesse ehrlich und transparent sind, und zeigen Sie dem Kunden, wie sein Versicherungsfall bearbeitet wird. Geben Sie außerdem Beispiele, aus denen die gewissenhafte Anwendung der Vorschriften im Interesse des Kunden hervorgeht.
3. Der Schummelfaktor
Wir alle haben klare Normen darüber, was erlaubt ist und was nicht. Gleichzeitig aber sehen wir häufig Graubereiche zwischen richtig und falsch: Man darf nicht lügen, aber eine kleine Notlüge ist in Ordnung. Betrug ist ein Tabu, aber ein falsches Alter anzugeben, um etwas Geld bei der Kfz-Versicherung zu sparen, das ist doch nicht so schlimm, oder?
Anwendung: Diese Art von „Schummelei“ lässt sich verhindern, indem man exakte Informationen abfragt. Fragen Sie zum Beispiel den Kunden nach seinem genauen Geburtsdatum, statt ihn eine Alterskategorie ankreuzen zu lassen, oder lassen Sie sich den Preis der verlorenen Sonnenbrille auf den Cent genau geben.
4. Kategorisierung
Betrügerisches oder unerwünschtes Verhalten fällt leichter, wenn es dabei nicht direkt um Geld geht. Ein Sprung in der Windschutzscheibe hat kein Preisschild, und es kostet nichts, den vereinbarten Werkstatttermin nicht wahrzunehmen.
Anwendung: Drücken Sie die Folgen einer Lüge in Heller und Pfennig aus. So können Sie zum Beispiel darlegen, wie sich unehrliche Forderungen auf die Versicherungsbeiträge auswirken, oder was der vergebens wartende Mechaniker pro Stunde kostet.
5. Knappheit führt in Versuchung
Das Gefühl, nur wenig Zeit zu haben, um eine Gelegenheit zu nutzen, fördert die Bereitschaft zum Betrug. „Nächsten Monat läuft meine Versicherung aus. Wenn ich mein Handy jetzt fallen lasse, kann ich mir das Geld noch von der Versicherung wiederholen.“
Anwendung: Es lohnt sich ohne Zweifel, Schadensforderungen dann besonders genau unter die Lupe zu nehmen, wenn sie gegen Ende des Versicherungsverhältnisses eingereicht werden. Sie könnten diese Kundengruppe zum Beispiel darüber informieren, dass Sie aufpassen: „Wussten Sie schon, dass wir jeden Versicherungsfall prüfen?“ Außerdem lässt sich das Gefühl der „letzten Gelegenheit“ durch eine Verlängerung des Versicherungsvertrags vermeiden. Vielleicht ist das ein guter Grund, dem Kunden ein attraktives Angebot zu unterbreiten?
6. Die Neigung zur Unterlassung
Vielen Menschen fällt es deutlicher leichter, etwas zu verschweigen, als aktiv zu lügen. Es ist viel leichter, die Frage „Haben Sie Probleme mit Ihren Augen?“ einfach nicht zu beantworten, als angeben zu müssen: „Ich habe keine Probleme mit meinen Augen.“
Anwendung: Stellen Sie relevante Fragen so, dass sie sich nur mit „ja“ oder „nein“ beantworten lassen, um eindeutige Informationen zu gewinnen.
7. Moralisches Recht
Dies ist das Gefühl, sich durch vorbildliches Verhalten das Recht erworben zu haben, auch einmal unehrlich zu sein (auch unter der englischen Bezeichnung „Moral Licensing“ bekannt). „Ich habe zwanzig Jahre lang meine Versicherungsbeiträge immer pünktlich gezahlt, da kann ich ja wohl diesen kleinen alten Kratzer auch noch mit in den Unfallschaden hineinnehmen.“
Anwendung: Sehr schwierig. Es ist möglich, den Versicherten ihre Normen und Werte in Erinnerung zu rufen und sie für gutes Verhalten zu loben. „Wir haben ihr Verhalten bemerkt und finden es gut – es hilft uns, ein guter Versicherer zu sein.“ Hier könnten auch Programme zur Prämienerstattung an die Versicherten oder an Hilfsorganisationen eine Rolle spielen.
Und, funktioniert das?
Ja, häufig schon. Ein gutes Beispiel aus dem wirklichen Leben: Die britischen Steuerbehörden (HMRC) hatten es mit einer großen Anzahl von säumigen Zahlern zu tun. Indem diese auf die Norm hingewiesen wurden („90 % aller Steuerzahler halten sich an die Zahlungsfristen“) konnte eine Verbesserung der Zahlungsmoral erzielt werden. Die Wirksamkeit des oben zitierten Satzes konnte genau gemessen werden, indem zwei randomisierte Gruppen miteinander verglichen wurden. Dabei zeigte sich in der Tat eine signifikante Kausalität. Darüber hinaus haben wir herausgefunden, dass der Effekt umso größer ist, je konkreter die Botschaft ist.
Manchmal jedoch funktioniert es auch nicht. Es ist immer eine Frage von Versuch und Irrtum. Das HMRC hat nun ein eigenes Team von Verhaltenspsychologen, die sich dieser Aufgabe erfolgreich stellen. Auch in den Niederlanden wenden sich einige Organisationen einschließlich der Regierung der Verhaltensforschung zu.
Unbedingt zusammenarbeiten!
Ich empfehle also, viele Optionen auszuprobieren und vor allem eine zuverlässige Bewertung der Ergebnisse vorzunehmen. Ideal ist ein gemeinsamer Lernprozess: Der Austausch von Erfahrungen, Resultaten und Methoden führt schneller zum Erfolg.
Mein Fazit: Seien Sie kooperativ und lassen Sie andere an Ihrem Wissen teilhaben. Letztlich profitiert von weniger zu Unrecht ausgezahlten Versicherungsleistungen und einem geringeren Aufwand für teure Ermittlungen die gesamte Versicherungswirtschaft.